Schwund
2024-05-11, post № 286
politics, #diary, #elektronenhirnkritik
“Mir gelingen keine Lieder mehr, die ich mit wohlgestimmtem Saitenklang begleite. Denn Lieder sind das Werk sorgloser Phantasie. (...) Ich schreibe, und meine Augen werden betaut von quellenden Tränen.” [N [1], S. 158—171: XV: Sappho Phaoni]
Es fällt mir zunehmed schwer, einen frohen Gedanken zu fassen, wenn ich die Haustür verlasse: ein erschreckender Teil meiner gemeinhin als Mitmenschen Bezeichneten ist dahin übergegangen, Spion in Auge und Ohr für Unbekanntes zu spielen: in Videochats zwingen sie, ohne meine Person zu beachten, mein Abbild in die diffusen Zwänge der Cloud, in ihren Spionage-getunten Automobilen überfahren sie überlegen grinsend meine Persönlichkeitsrechte, Überwachungskameras werden weit auf den Bürgersteig geneigt und Türklingeln filmen auf die Straße, wo sie meine Privatsphärenansprüche als EU-Bürger im öffentlichen Raum zertreten.
Ich halte für eine besonders in den letzten Jahren grundlegend verschlafene Komponente die durch unsere Gesellschaft triefende Inkompetenz, aus der sich im Lichte der komplexen Folgen von Digitaltechnologienutzung schnell gefühlte Boshaftigkeit entwickelt: Anscheinend werden rechtlich oder moralisch vertretbare Winkel für Festmonturkameras nicht beachtet, Systeme werden in mangelhaft bis ungenügendem Zustand — erstellt von Individualvorteil-fröhnenden Ignoranten ohne Gespür für Gesamtgesellschaftliches — ausgeliefert und in Betrieb genommen.
Cybersecurity hat sich von einer geistig lohnenden Spielwiese diskreter Strukturen im Schnittgebiet zur Wirklichkeit zu einem eintönigen Ernüchterungsfest menschlicher Abstumpfung gewandelt.
In diesem Sinne steht der Hoffnugsvollerer erdachten “friedlichen Koexistenz” [B24 [2]] gegenwärtig nicht bloß ein erschütternder Identitätsverlust entgegen sondern mithin eine kindliche Blindheit ihrer Unmöglichkeit [H80 [3]] der Implementation gegenüber.
Der dadurch resultierende, weitreichende Vertrauensverlust sollte auch nicht vernachlässigt werden: falls sich nicht in vielen Köpfen eine Entprüdung bezüglich Datenverfügbarkeit breit macht — eine Gesellschaft ohne Geheimnisse der einzelnen Teilnehmenden ist zumindest im Grauen durchaus denkbar — halte ich einen abrupten Kipppunkt, ab dem die kontinuierlich auftretenden, jedes Mal unverzeihlichen Sicherheitspatzer schlicht zu viel und untragbar werden, für unabwendbar.
Ich gucke tatenlos zu, wie eine Welt, derer ich kein Bürger sein konnte und deren Schönheit mir bloß in aufgebauschten Erzählungen und brüchigen Artifakten vorliegt, unwiederbringbar in Trümmern versinkt.
Sollte es tatsächlich so sein, dass mir diese Gesellschaft einen Platz in ihr nicht verwehrt, so zeichnet sich fortschreitend klarer ab, dass ich das, was sie mir vorlegt, aus tiefem Ekel ablehne.
Footnotes
- ▲ [N] P. Ovidii Nasonis: Heroides. Übersetzt und herausgegeben von Detlev Hoffmann, Christoph Schliebitz und Hermann Stocker. Reclam, 2000. ISBN: 978-3-15-001359-5.
- ▲ [B24] Martin Burckhardt: Replay des Mittelalters. In: Lettre International 144 Frühjahr 2024, S. 37—40.
- ▲ [H80] Charles A. R. Hoare: The Emperor’s Old Clothes. In: Communications of the ACM, Bd. 24, Nr. 2, Februar 1981. Online: https://
web.archive.org/ web/ 20240407185729/ https:/ / www.cs.fsu.edu/ ~engelen/ courses/ COP4610/ hoare.pdf [2024-04-18, sha256=d6f19cf00c401c63c3f02fb28c076d67410740d80299929eaa9e1cdc895b7ee8]