Opakfreie Software (#299)
Abriss. Als emphatische, mir zu Teilen zu sehr weltuntergangsprophezeiende Conclusio schreibe ich diesem Text den folgenden Korken:
Die GPL war sicherlich ein Meilenstein. Doch können wir uns 202x den Luxus nicht mehr leisten, über Besitzverhältnisse zu reden. Und all das ist eine Lizenz: ein rechtlich bindendes Dokument, das klärt, wem der Inhalt gehört.
Mit steigendem Überwachungsunwohl reicht der Lessig-Traum¹ einer kommunal gehaltenen Dokumentensammlung jedoch nicht aus, um Seelenfrieden zu finden: weltumspannend agierende Megafirmen kontrollieren Milliarden siliziumgeborener Söldner; wer ihre Maschinerieanweisungen kennt oder besitzt ist irrelevant, sie gehorchen nicht dem mündigen Bürger, der sie für sein kleines Leben anheuert.
Begriffen schenkt ihr gesellschaftlicher Kontext Bedeutung, ungeachtet der Größe der Menschengruppe noch Übereinstimmungskonfliktpotenzial gegenüber anderen. Germanischer Orthografietradition folgend erhalten erstarrende Komposita einen Erkennungsmarker darin, dass nicht die Ausgangswörter in einer bestimmten Konstellation als eins gelesen erstarren, sondern ihre leerstellenbefreite Zusammensetzung, welche bei Neubesetzung zuvor nur geringfügig anderen Klangs als die getrennte Benutzung waren. Erstarrungen dieser Art in der englischen Sprache erhalten britisch gedacht einen Bindestrich oder bedienen sich äußerst selten der oben beschriebenen Notation, mit dem erschlagenden Einfluss des Amerikanischen in den letzten drei viertel Jahrhunderten ist jedoch die von der unzusammengesetzten Nutzung ununterscheidbare Schreibweise en vogue. Eine Tendenz, die sich nach dem Zerfall der europäischen Rechnerszene in den 80ern [Murphy1983², S. 11—16] nur weiter verfestigte.
Dieses Plädoyer nachklingend, sollte es nicht verwunderlich sein, dass der Begriff freie Software (engl. free software) ein schwer fassbarer ist. Man verwechselt ihn nicht mit einer Daunenlieferung (engl. soft ware), doch in Herrn Stallmans Prägung [Williams2002³] wird er nur in Herrn Stallmans Kreisen verwendet.
Von der syntaktischen Verwirrung langsam Abstand nehmend, will ich auf zwei weitere Komplikationen hinweisen. Die erste ist, dass der am MIT geborene Begriff free software qua der assoziativen, neuphonemikscheuenden Natur des delatinisierten Wissenschaftsbetriebs, der seine semantischen Pole keiner toten sondern der Alltagssprache anheftet, die Tore dem Prestigeabschlauchen via Rückläufern [Pörksen1988⁴] öffnet: ein Prozess, der im prestigeträchtigen Raum florierende Lemmata die Zytokinese nachahmend entzweit und dem Zuhörer das Entwirren anhand von sozialer Einbettung der Äußerung auferlegen.
Die zweite, dass der Begriff Freiheit, im Schnittgebiet zwischen Philosophie und Politik liegend, einen hohen Grad an Definitionshoheit [Pörksen1988] dem Sprecher gibt, wodurch er sich einer Plumpheit entzieht.
Rückläufer sind die Katalysatoren von Hypes, ein mir schlüssiges Erklärungsmodell für die im letzten Jahrzehnt erfolgte Zusammenwerfung der Begriffe free software und open source software, gefolgt von der Abschwächung der Regelsätze des Attributs open source, mündend in einer eklatfreien Durchführung des Open-Source-Washings (ein dem Greenwashing parallel gebildeter Begriff, siehe u. a. [DeVault2022⁵]): Nur durch die Erfindung des Begriffs open source als semantisch naher Spezialfall fron free software, seine Aufweichung und letztendliche Auslaugung konnte Microsoft GitHub kaufen.
Doch bin ich nicht daran, Hypes zu beklagen; diesem muss sich jede selbst entziehen, sofern Bedürfnis solcher Flucht vorhanden.
Vielmehr ist es der Freiheitsbegriff auf einem elektronenhirnbesetzten Erdball und der Obsession, ihn in ein deterministisches Regelwerk zu zwängen, dem ich mich nun widmen will.
Das Web ist der Prometheus des Elektronenhirns, und Austragungsort vieler datenschutztechnischer Massenmisshandlungen. Folglich musste die FSF ihre Ideologie auf diesem spielregelledigen Terrain präzisieren. Das Ergebnis war plakativ „GPL & eval-free, short JS“ [Stallman2009⁶].
Der codegolfende Teenager, der ich einst war, tat diesen Ansatz impulsartig als arbiträr ab. Und auch acht Jahre später, mittlerweile fähig, den Satz von Rice zu zitieren, kann ich bloß den Versuch, einem nicht artikulierbaren Freiheitsgefühl Ausdruck zu verleihen, gutheißen.
Festzuhalten ist, dass selbst die lizenzpenetranteste Instituion (in Bezug auf Software; unter allen Institutionen, die kapitalarm sind) sich nicht auf bloß ihre eigene Schrift berufen kann, sondern für eine interpretierte Sprache, in nichtobfuskierter Weise vertrieben, FSF-abgesegnet lizensiert, zusätzlich die Notwendigkeit für Codestrukturregeln steht.
Ab dem Punkt, an dem das Quelltextausmaß die obere menschliche Aufnahmefähigkeit über eine Lebenszeit überschreitet, zerfallen die die Forderung offenen Quelltexts gebierenden Heuristiken. Zahlen von mehreren dutzenden Millionen Zeilen für Firefox und Chromium⁷ kommen dieser Grenze wohl nahe.
Im November letzten Jahres entschied ich mich, kein Open-Source mehr als Autor zu verfolgen: die EU-Recht-inkompatiblen und nicht mit den europäischen Gesellschaftswerten vereinzubaren Endlosansprüche des Module-Proxys des Go-Projekts hatten mich moralisch überwältigt.
Nachhallend stellte ich mir die Frage, ob das bloße Nichtpublizieren von Quelltext meine Elektronenhirnnutzung proprietär mache.
Viele wissenschaftliche Papiere nutzten Programme, die binnen weniger Jahrzehnte Lost-Media wurden. Das ursprüngliche Vi ist verlorengegangen. Quelltextanalphabetismus oder Lesefaulheit fallen nach Gefühl groß aus.
Legislatur wie z. B. die DS-GVO (engl. GDPR) oder das GdD (engl. DSA) befassen sich mit Absicht, nicht blinder Substanz. Der Unterschied zwischen einer „reinen Durchleitung“ (engl. “mere conduit”, siehe #297) und restriktiveren Einteilungen der Vermittlungsdienstanbieter ist, ob die Daten „angeguckt“ (salopp formuliert) werden; die Maschine erfährt den TCP-Socket auf gleiche Weise.
Vor diesem Hintergrund begründe ich hiermit den Begriff der opakfreien Software: Freiheit, in welcher Weise auch immer persönlich aufgefasst ausgestaltet (für mich zzt. von Bedeutung ist die Entwicklung eines Humanismusbegriffs im digitalen Raum), ist in sich im Schriftmedium des Quelltexts verfolgbar, ohne scheuklappenartig herausgepickten Einzelattributen wie „Quelltext ist einsehbar“ zu folgen.
Ich bin ein Mensch und ich schreibe Zeilen in der Tradition meiner Spezies.
[1] | Hier: Froher Blick darauf, was das Web dem schaffenden Zoon politikon offenbart. |
[2] | [Murphy1983] Brian Murphy: „The World Wired Up ; Unscrambling the new communications puzzle“. Comedia Publishing Group. London, 1983. ISBN 0-906890-4-1 |
[3] | [Williams2002] Sam Williams: „Free as in Freedom“. O’Reilly & Associates. Sebastopol, CA; 2002. ISBN 0-596-00287-4 |
[4] | [Pörksen1988] Uwe Pörksen: „Plastikwörter ; Die Sprache einer internationalen Diktatur“. Klett-Cotta. Stuttgart, 1988. ISBN 3-608-93614-9 |
[5] | [DeVault2022] Drew DeVault: „GitHub Copilot and open source laundering“. 2022-06-23. Online: https:// |
[6] | [Stallman2009] Richard Stallman: „The JavaScript Trap“. 2009. Online: https:// |
[7] | Counting with FreeBSD 13.2-RELEASE’s ; cd "$(mktemp -d)" ; git clone -q https://chromium.googlesource.com/chromium/src chromium-src ; cd chromium-src ; git checkout -q f32177c5480a5b5be984db4d5136d6bb2daf04e4 ; grep -rI '' . | grep -v '^\./\.git/' | wc -l | sed 's. *..' 59587168 |